GRUNDSÄTZE
INKLUSIONSORIENTIERTEN DENKENS UND HANDELNS
Grundsatz 1
Eigene Praktiken und Routinen überprüfen
Inklusion ist nicht nur topografisch, also örtlich festgemacht, sondern geschieht vielmehr operativ. Denn Ausschluss- und Stigmatisierungsprozesse werden in und durch die Schule selbst erzeugt, unabhängig davon, ob es sich um eine Regel- oder Sonderschule handelt. Eine Perspektive zweiter Ordnung in Form einer Selbstbeobachtung und Reflexion anhand eines Transkripts einer Unterrichtsbeobachtung (z.B. durch Videoaufnahme) ermöglicht den Lehrpersonen eine reflektierte und kritische Herangehensweise an bestehende Praktiken, um diese im Sinne einer diversitätssensiblen und inklusionsorientierten Bildung zu verbessern (Kneer & Nassehi, 2000). Durch das Hinschauen nehmen Lehrpersonen statt einer Position der Überlegenheit eine Position des Involviertseins ein und können eigene Praktiken und Routinen überprüfen. Dies beinhaltet das Hinterfragen, wer im Unterricht wie behandelt wird, wer ausgeschlossen wird und welche Barrieren oder Diskriminierungssituationen durch bestehende Routinen und Praktiken im Unterricht entstehen könnten. Die Nutzung einer Perspektive zweiter Ordnung, wie beispielsweise die Analyse eines Unterrichtstranskripts, hilft dabei, bisher unbemerkte Verhaltensweisen und Gewohnheiten zu erkennen und eigene Handlungsroutinen zu reflektieren.

Eigene Praktiken und Routinen können anhand einer Beobachtung zweiter Ordnung überprüft werden. Vorausgehend muss gesagt werden, dass eine Beobachtung zweiter Ordnung etwas Zeit und Aufwand benötigt. Jedoch lohnt es sich, sich die Zeit z. B. einmal pro Schuljahr zu nehmen, um das eigene Handeln, bestehende Praktiken und Routinen genauer anzuschauen und kritisch hinzusehen. Durch die Beobachtung zweiter Ordnung können eigene Gewohnheiten, Verhaltensweisen und mögliche Ausschlussmechanismen im Unterricht besser erkennt werden.
Doch was bedeutet eine Beobachtung zweiter Ordnung konkret?
Praktisch gesehen wird unter der Beobachtung zweiter Ordnung die Beobachtung einer Beobachtung verstanden. Dazu erklären Kneer und Nassehi (2000) ausführlich:
[Aber] auch die Beobachtung zweiter Ordnung kann nur sehen, was sie sehen kann und sie kann nicht sehen,
was sie nicht sehen kann […] Kurz gesagt: Auch die Beobachtung zweiter Ordnung ist Beobachtung.
Aber die Beobachtung der Beobachtung ermöglicht reflexive Einsichten für die eigene Beobachtung
(Kneer & Nassehi, 2000, S.101)
Dank der Beobachtung zweiter Ordnung werden blinde Flecken sichtbar, jene Verhaltensweisen, Denk- und Handlungsgewohnheiten, welche in der ursprünglichen Beobachtungsperspektive nicht wahrgenommen werden konnten. So ist zum Beispiel das Analysieren eines Transkripts einer Unterrichtssequenz die Beobachtung zweiter Ordnung und kann helfen, eigene Handlungsroutinen zu reflektieren. Die Einnahme einer Perspektive zweiter Ordnung durch Distanzierung ist nach Hofstetter und Koechlin (2022) ein wichtiger Ansatz in der schulischen Heilpädagogik und allgemeinen Pädagogik, um Teilhabebarrieren und Diskriminierungssituationen zu erkennen und zu überwinden. Diese Perspektive zweiter Ordnung ermöglicht es Lehrpersonen, sowohl ihre eigenen als auch die Routinen und Praktiken anderer zu hinterfragen und kritisch zu betrachten «und so zu einer inklusionsorientierten Praxis beizutragen» (S.92).
Bevor nun weiter auf das Erstellen eines Transkripts eingegangen wird, möchte hier noch einmal klar gesagt werden, dass es bei der Beobachtung zweiter Ordnung nicht darum geht, dass man durch das Hinschauen Lehrpersonen als gute oder schlechte Lehrpersonen identifiziert oder danach nie mehr Ausschlussmechanismen im eigenen Unterricht stattfinden. Sondern es geht darum, hinzusehen. Hinzusehen wie wir Lehrpersonen über Schüler*innen reden, wie sie adressiert und hierarchisiert werden. Es geht darum zu verstehen, dass wir als Lehrpersonen involviert sind. Aber mit dem Bewusstsein darüber, können einzelne Unterrichtsmechanismen im Hinblick auf inklusionsorientiertes Denken und Handeln verbessert und Diskriminierungen zumindest vermindert werden.
Wie kann ein Transkript einer Unterrichtssequenz erstellt und anschliessend analysiert werden und was soll dabei beachtet werden? Die folgenden Ausführungen wurden in Anlehnung an Przyborski & Wohlrab-Sahr (2014) und Deppermann (2008) erstellt.
Folgende Punkte sind zu beachten beim Transkript erstellen:
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Gesprochene Sprache unterscheidet sich von geschriebener
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Andere formale Regeln gelten
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Personen sprechen oft gleichzeitig, z.B. in Form von Zustimmung oder Unterbrechung
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Aspekte wie Lautstärke und Intonation prägen die gesprochene Sprache
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Solche Elemente sollten im Transkript notiert werden
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Genauigkeit erfordert grossen Aufwand, also ist es wichtig, zu entscheiden, welche Informationen dringend notwendig sind und auf welche verzichtet werden kann
Ziel der Transkription:
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Dritten, die nicht an der Situation teilgenommen haben, einen guten Eindruck ermöglichen
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Nonverbales Geschehen bei Videobeobachtungen beschreiben
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Bei Gesprächen Sprecherwechsel und paraverbale Aspekte (z.B. Lachen, Lautstärke, Intonation) transkribieren
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Je nach Situation Überlappungen/gleichzeitiges Sprechen notieren
Beispiel eines Transkripts aus dem Unterricht einer Heilpädagogin
Diese Fragen kannst du dir nach dem Transkribieren beim Durchlesen stellen. Es eignet sich auch, das Transkript mit einer Zweitperson durchzulesen und zu analysieren:
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Differenzlinien: Welche Differenzkonstruktionen/Differenzlinien werden in der Sequenz bedeutsam? Durch welche Unterscheidungen/Adressierungen? (Wer wird wie adressiert? Z. B. als besonders schnell, fleissig oder langsam. Von wem wird was erwartet?)
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Ein- und Ausschlussprozesse: Welche Praktiken des Sprechens und des Tuns (von Lehrpersonen und Schüler*innen) lassen sich rekonstruieren? Wo können in den Praktiken des Sprechens und des Tuns Behinderungen (Besonderungen, Benachteiligungen) als soziale Konstruktionen identifiziert werden? Wie lassen sich diese Praktiken in Bezug zu Ein- und Ausschlussprozessen setzen?(Beispiele einer Praktik des Tuns: Wenn ein Kind von der Klassenassistenz speziell begleitet wird, dies ist eine gewisse Besonderung des begleiteten Kindes oder wenn ein Kind vor die Tür geschickt wird)
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Involviertsein der SHP/Lehrpersonen: Wie ist das pädagogische Personal an der Hervorbringung der Differenzlinien/Ein- und Ausschlussprozesse beteiligt? (Spricht die Heilpädagogin/ der Heilpädagoge mit bestimmten Kindern anders als mit anderen? Werden z.B. Kinder besonders nach notwendiger Unterstützung gefragt, die Lernschwierigkeiten zeigen?)
Um eine Idee zu haben, wie ein solches Transkript analysiert werden kann, werden hier aus dem oben aufgeführten Transkript einzelne Ausschnitte beleuchtet und im Hinblick auf die aufgeführten Fragen kritisch betrachtet.

Rein äusserlich wird L. bereits vom Rest der Klasse unterschieden, da die SHP ihn als einen Jungen im Rollstuhl beschreibt und er das einzige Kind im Rollstuhl ist. Zudem erklärt sie, dass sie mit ihm an einer Namenwerkstatt arbeite, weil er noch Übung braucht beim Namenschreiben und er vielleicht eines Tages auf eine elektronische Schreibhilfe angewiesen sein wird. Aufgrund dieser Merkmale wird er bereits hier als hilfsbedürftig adressiert.
Bereits der einleitende Text zeigt also, dass die zuständige Heilpädagogin, bereits Zuschreibungen und Adressierungen verankert hat, bevor sie überhaupt im Handeln ist, also am Unterrichten ist. Also bereits in der Wortwahl beim Beschreiben des Kindes, wird ersichtlich, dass die SHP ein Teil ist von der Behinderung als soziale Konstruktion.
Hier wird bereits klar, dass Inklusion gar nicht örtlich festgemacht ist. Nur weil ein Kind in die Regelschule integriert wird, heisst das nicht, dass keine Ein- und Ausschlussprozesse stattfinden. Inklusion ist eine Frage der sozialen Prozesse. Es geht viel mehr darum, zu erkennen, wie man selbst mit seiner Kommunikation oder Haltung zu Ein- und Ausschluss beiträgt. Die folgende Auseinandersetzung zeigt, dass auch SHPs oder Lehrpersonen dazu beitragen, dass gewisse Ausschlussprozesse und Zuschreibungen stattfinden.
Auch wenn es nicht angenehm zu erkennen ist, dass man selbst Teil von Ausschlussprozessen ist, hilft es, sich selbst zu reflektieren und Handlungsalternativen zu entdecken.

Zeile 1: Erwartungshaltung: SHP geht davon aus, dass L. nicht gerade am Tisch sitzen kann.
Zeile 7: Das «wämer» = wollen wir, SHP schreibt L. zu, dass er das auch zeigen will und dass es am besten im Stehbrett geht. War SHP je selbst im Stehbrett, um das zu beurteilen?
Zeile 22: Differenzkonstruktion zwischen «de Chind» und «L.». L. wird als nicht zugehörig zu den Kindern adressiert

Zeile 35: L. wird als hilfsbedürftig adressiert, indem, ohne auf die Antwort zu warten, der Stuhl näher geschoben wird. Praktik des Tuns / falsch verstandene Solidarität. L. könnte sich auch ohne Hilfe, aber mit etwas Zeitinvestition selbst näher an den Tisch schieben --> Ableismus (ihm wird zugeschrieben, dass er nicht fähig ist, den Stuhl in angemessener Zeit zurechtzuschieben)

Zeile 70-71: Ausschlussprozess: SHP schliesst mit dieser Aussage L. von der Gruppe aus. SHP adressiert L. als den Schüler, der es nötig hat seinen Namen speziell zu üben, die anderen brauchen das nicht. Differenzkonstruktion: fähig/nicht fähig oder haben es nicht nötig/ hat es nötig
Literatur
Deppermann A. (2008). Gespräche analysieren. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Hofstetter, D. & Koechlin, A. (2022). Inklusionsorientierte heil- und sonderpädagogische
Professionalität und die Transformation habitualisierter Denk- und Handlungsgewohnheiten. In C. Stalder & W. Burk (Hrsg.), Entwicklungsorientierte Bildung – ein Paradigmenwechsel. (S. 90-101). Weinheim: Beltz Juventa.
Kneer, G. & Nassehi, A. (2000). Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung (4. Auflage.). Wilhelm Fink.
Przyborski, A. & Wohlrab-Sahr, M. (2014). Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch (4. Auflage). Oldenburg Verlag.